Gestrandet zwar, nicht aber untergegangen

Eines Morgens stand die Mutter völlig fassungslos – zusammen mit ihren drei kleinen Kindern – am Bett des soeben verstorbenen Ehemannes. Noch am Vorabend hatte der Arzt versichert, der Vater habe die Krise nach der Spanischen Grippe nun überstanden. Wenig später rissen die Behörden die arme Familie rücksichtslos auseinander. Die Mutter bekam  keinerlei Mitspracherecht.

Heinz, der Älteste, war da gerade erst fünf Jahre alt gewor­den. Der kleine Bruder wurde adoptiert, die Schwester kam ins Kinderheim. Heinz aber wurde trotz seines zarten Alters verdingt, kam zu einem Bauern im selben Ostschweizer Dorf.

Von Anfang an wurde der Bub als billiger Knecht betrachtet. Der Bauer bekam zwar ein kleines Kost­geld für den Buben, fand aber, Heinz müsse auch selber zu seinem Lebensunterhalt beitragen. Als die Schulzeit begann, ging deshalb die Arbeit auf dem Bauernhof meistens vor. So durfte Heinz, obwohl klug und wissbegierig, oft nicht zur Schule. Der Bauer war ein jähzorniger Mann, wenig über zwanzig Jahre alt. Bald schon heiratete er eine Frau aus dem Vorarlbergischen. Auch sie stand schnell unter der Fuchtel des weitherum gefürchteten Mannes.

Zur Freude des kleinen Verdingbuben kam hie und da die Schwiegermutter aus Vorarlberg zu Be­such. Auch sie packte sofort überall an. Trotz der strengen Arbeit hatte sie immer ein gutes Wort für den Buben übrig und machte ihm damit das Leben etwas leichter. Die Erinnerung an diese Frau begleitete Heinz bis ins hohe Alter.

Die Schule war für den Knaben eine Oase der Freude, wenn auch manche Kinder den armselig ge­kleideten, vermutlich auch nach Stall riechenden Buben verachteten. Damals waren die Lehrer noch kaum richtig ausgebildet und schlecht bezahlt, mussten aber trotzdem eine grosse Schar Kinder unter­richten. So übersah der Lehrer – Lehrerinnen waren damals noch selten – die Nöte des klugen Schülers völlig. Hausaufgaben? Dafür war kaum jemals Zeit. Und wo hätte er diese wohl machen sollen? Vielleicht neben der Futterkrippe im Stall? Als die obligatorische Schulzeit endete, waren in seinem Abgangszeugnis denn auch auffällig viele Absenzen vermerkt.

Heinz hielt durch, bis die obligatorische Schulzeit zu Ende war. Viel hatte er in dieser Zeit erdulden, für vieles geradestehen müssen, wofür die unterdessen auf die Welt gekommenen Buben der Bau­ers­leute verantwortlich gewesen wären. Eines Tages beschloss der unterdessen Halberwachsene des­halb, vor all dem Zwang und den ständigen Demütigungen zu flüchten.

Während mehrerer Wochen versteckte er sich darauf in einem Wald in der Nähe seines Verding­ortes. Zum Glück kannte er viele Kräuter und Pilze, dazu gab es an einem Wildbach frisches Wasser. Natürlich liess ihn der „Meister“ – wie Heinz den Bauern heimlich nannte – überall suchen, schliess­lich fand sich nicht so schnell wieder eine so billige, fast rund um die Uhr einsetzbare Arbeitskraft. Doch der Junge blieb unauffindbar.

Die Mutter hatte bereits aus erster Ehe sechs Kinder. Diese waren im Waisenhaus des Dorfes unter harten Bedingungen aufgewachsen. Eine der bedeutend älteren Halbschwestern heiratete später ins Welschland. Zu ihr flüchtete Heinz irgendwann. Wie er dorthin kam – so ganz ohne Geld -, blieb sein Geheimnis. Die Schwester nahm ihn ohne langes Fragen auf. Der Ehemann war Schäfer, zog mit einer grossen Herde monatelang über die Alpen des Waadtlandes. Von ihm lernte Heinz Wichtiges über das Leben in der Natur kennen und eignete sich ganz nebenbei auch die französische Sprache sowie welsche Essgewohnheiten an.

Doch irgendwann kam Heimweh auf. Heinz kehrte in die Ostschweiz zurück, wollte nun unbedingt eine Lehre machen. Er war geschickt, zudem von schneller Auffassungsgabe, aber sein Schulzeugnis erwies sich als grosses Hindernis. Als er sich in einer Fabrik nach Ausbildungsmöglichkeiten zum Mechaniker erkundigte, wurde er nur ausgelacht. „Was, mit diesen vielen Absenzen willst du eine Berufslehre machen? Unmöglich, vergiss es!“

Tief enttäuscht suchte er in einer andern Fabrik Arbeit als Ungelernter. Dort nahm ihn eine mütter­liche Frau unter ihre Fittiche, brachte ihm ein wenig gesellschaftlichen Schliff bei und gab ihm Ver­trauen. Zum ersten Mal fühlte er sich trotz der strengen Arbeit, die er äusserst gewissenhaft erledigte, auch ein bisschen als Mitglied der Gesellschaft.

Mit einunddreissig Jahren heiratete er eine gediegene Frau, deren kleines Vermögen dem Paar erlaubte, einen eigenen Bauernhof zu kaufen. Die Frau war gebildet, feingeistig, aber nicht unbedingt für schwere Bauernarbeit geeignet. Vier Töchter, wenig Anerkennung und viel Mühsal prägten ihre Ehezeit. Nach gut zwanzig Jahren zerbrach die Ehe denn auch.

Später jedoch, mit knapp siebzig Jahren, begann Heinz auf äusserst lebendige Art über sein Verding­bubenleben zu berichten, begeistert aufgenommen von einer wachsenden Leserschaft. Das Schrei­ben wurde ihm zum Lebenselixier. Endlich war auch er „jemand“, hatte er seinen passenden Platz in der Gesellschaft gefunden.

Annelies Seelhofer-Brunner – 2021