Eine fettige Geschichte

26. Mai 2019 Aus Von Annelies Seelhofer-Brunner

Aus dem Verdingbubenleben 1919 – 1928

In jenen Jahren war es üblich, dass die Bauersleute vor dem Heuet dem Bäcker ein Kesseli Rahm ins Geschäft brachten, um daraus leckere Rahmfladen zu machen. Die Zutaten Mehl, Salz und Gewürze für den Teig und die Schlorzi (Guss) lieferte der Bäcker dann selbst. Der war, obwohl stark invalid, ein sehr tüchtiger Mann und stark genug, um die Mehlsäcke mit Leichtigkeit zu handhaben. Neben dem immer gut gebackenen Brot und einfacheren Konditoreiwaren waren er und seine robuste Frau bestens bekannt für Fladen jeder Art, und die zwei Leute bewältigten einen erstaunlichen Umsatz an Backwaren.

Die tägliche Arbeitszeit (werktags) dauerte eher über 15 Stunden als darunter. Die Schule begann den Sommer über um 7 Uhr 30 und der Schulweg betrug normalerweise mehr als eine halbe Stunde, aber bis 7 Uhr hatte ich immer im Stall zu arbeiten. Fürs Essen blieb da oft wenig Zeit, sodass es jeden Morgen ein Rennen absetzte. Ich und meine Kameraden kamen deshalb öfters zu spät. Doch die schriftliche Einrede, die der Meister vom Lehrer bekam, bog dieser gegen uns ab, indem er Nachbarskindern auftrug, dem Lehrer mitzuteilen, wir kämen nur zu spät, weil wir uns auf dem Weg herumtrödelten. Natürlich waren wir nach dieser Darstellung in einem schiefen Licht beim Lehrer.

Nach dem Fünf-Minuten-Zmorgen spähte ich nach dem Nachbarhaus, ob mein Kamerad – auch er ein Verdingkind – schon unterwegs sei. „Oha!“, dachte ich, „jetzt müssen wir noch den Weg über die Bäckerei machen!“, denn der Chüedler (Konrad) hatte ein Kesseli an der Hand, musste also noch vor der Schule den Rahm abliefern. „Sali!“, sagte er zu mir, als wir zusammentrafen, „Ich nehme an, du machst mit mir den Umweg, es ist doch besser, wenn wir zusammen zu spät kommen als ich allein.“ Ich konnte nicht anders, und so trabten wir die raue Strasse abwärts, nicht ohne die Zehen mehrmals an den vorstehenden Steinen anzuschlagen. Mich wunderte es, dass nichts von dem Rahm verschüttet wurde, denn mein Kamerad schwenkte das Kesseli während des Rennens bedrohlich herum.

Nachdem er die Ware abgeliefert hatte und wir den Bäcker nach der Zeit gefragt hatten, stellten wir fest, dass wir gar nicht viel zu spät dran waren. Also wurde die Umwegstrecke von gut einem Kilometer absolviert. „Was, schon wieder vier Minuten zu spät?“, fragte der Lehrer, entschuldigte dann aber meinen Kameraden. Zu mir aber sagte der Lehrer: „Du hattest ja nichts zu tun in der Bäckerei.“ Er gab mir eine Strafaufgabe, die ich aber in der Schule erledigen durfte. Daheim durfte ich den Sack nie aufmachen, oder nur, wenn es den Meister wundernahm, was ich etwa darin hätte.

Nach der Schule um halb Zwölf mussten wir dann den Umweg über die Bäckerei wieder machen. Der Bäcker erklärte nun, dass der Rahm viel zu dick gewesen sei und er extra Magermilch aus der Käserei haben holen müsse, damit die Fladen richtig geraten würden. Und aus den gut zwei Litern seien jetzt fünf statt wie üblich vier Fladen entstanden. Die Frau hat diese halbiert und dem Chüedler einen schönen Korb mitgegeben, damit diese nicht beschädigt würden, denn im Brotsack musste er auch noch zwei Fünfpfünder heimtragen. Ich selber drei solcher Riesenbrote. Es war nun genug geladen, denn er hatte ja auch noch einen Schultornister und ich das schäbige Schulsäckli. Zu jedem Fünfpfünder gab es damals ein Bürli (Brötchen) gratis. Mein Kollege durfte jeweils eins essen, ich aber nicht, denn ich wollte nicht noch einmal ein blaues Hinterteil davontragen.

Der Chüedler hatte aber diesmal andere Überlegungen im Kopf. Da es ja fünf statt der üblichen vier Fladen gegeben hatte, könnten uns ja einen ganzen Fladen genehmigen, da ja einer überzählig sei, darum würde es auch niemand merken. Natürlich war ich nicht dagegen, also zerriss der Chüedler erst einen halben und teilte mit meinen Teil zu. Das erste Stück verschlangen wir in kurzer Zeit, doch mit der zweiten Hälfte hatten wir etwas Mühe. Ich brachte auch diesen Teil noch hinunter, aber meinen Kameraden würgte es plötzlich und er stiess heraus: „Jetzt muss ich aufhören, sonst muss ich erbrechen.“ Doch wohin mit dem Rest? Nun musste halt der Tornister herhalten. Im Korb war ja obendrauf noch ein Pergamentpapier, damit wurde das Stück in halbwarmem Zustande eingewickelt und versorgt. Dass ich daheim nicht viel ass, fiel nicht auf, denn die Herrschaft war längst fertig, da man eine dringende Arbeit vorhatte. Es wurde ein strenger Nachmittag.

Wir waren mit der Stallarbeit noch nicht fertig, da gab der Hund an und der Meister schaute nach. Es war der Nachbar, der sonst nicht oft zu Besuch kam, denn die beiden Männer mochten sich nicht besonders. „Wo ist der Bub?“, hörte ich ihn sagen, worauf der Meister fragte: „Welcher Bub?“ Ja, ob er denn nicht wisse, was diese beiden Krüppel angestellt hätten. Er wolle diesen nun auch noch bestrafen, wie er das „seinem”  Handbuben besorgt habe. „Ja, ich glaube, auf dieser Heimat habe nur ich etwas zu sagen“, gab der Meister nachdrücklich bekannt. Er werde ihn schon alleine finden, meinte der Andere und wollte in den Stall eindringen, was ihm aber nicht gelang, denn – obwohl kein Schwächling – er war dem Meister weit unterlegen und musste unverrichteter Dinge wieder abziehen. Er werde mich schon einmal erwischen, brummte er.

Nun, es war keine Kunst, der Sache mit dem Fladenrest auf die Spur zu kommen. Das Pergament war durch das Rütteln im Tornister verrutscht, sodass Bücher und Hefte von dem feisten Stück Fladen stark eingefettet worden waren. Als der Chüedler am Abend den Tornister zwecks Hausaufgaben auspackte, sahen die Eltern die Bescherung. Die Frau musste sich sofort beim Bäcker Auskunft verschaffen. Allein im Haus konnte sich der Mann nicht mehr beherrschen und hat „seinen“ Buben fast erwürgt. In der Zeit, da sein Meister bei uns war, ist der Chüedler abgehauen, aus Nimmerwiedersehen, denn seine Angehörigen haben sich geweigert, den Buben wieder zurückzubringen, wie sein „Meister“ es verlangt hatte.

Mit selber ging es nicht so gut, denn obwohl ich viele Verwandte in der Gemeinde Urnäsch hatte, rührte nie jemand auch nur einen Finger für mich. Auf der Seite meines Vaters war nach seinem Tod 1919 – ein Opfer der Spanischen Grippe – niemand mehr vorhanden.

So hatte ich also meinen guten Kameraden verloren. Ich habe aber fast ein Wunder erlebt, denn im letzten Schuljahr fand ich einen neuen Freund, und zwar aus einer Familie mit 14 Kindern, davon 11 Buben, die mich – ausser meinem neuen Freund – nach Möglichkeit schmähten und plagten. Dieser Bub war ein starker Kerl, und er beschützte mich vor weiteren Angriffen. Von da an habe ich auch in der Schule gut gearbeitet und kam mit dem Lehrer gut zurecht. Leider musste aber mein neuer Freund sehr jung sterben.

Veröffentlicht am 6. April 1988 im „Gääser Blättli“