Der Sternenknabe

Der Sternenknabe

29. November 2021 Aus Von Annelies Seelhofer-Brunner

Vor Zeiten lebte einmal ein armer Holzfäller, der hatte zwölf Kinder. Oft genug gab in seinem Hause nicht genug zu brechen und zu beissen. Eines Abends, als schon der Winter nahte, ging er durch den Wald, um Holz zu sammeln. Es war bitterkalt, und die Sterne funkelten am Himmel. Auf einmal sah er, wie sich ein kleiner Stern vom Firmament löste. Wie er noch staunte und schaute, seht, da fiel er ihm geradewegs vor die Füsse. Und er sah ein neugeborenes Kind, das in ein goldbesticktes Tuch gehüllt war. Um den Hals trug es eine goldene Kette, und unter den Windeln fand er einen Beutel voller Goldstücke.

Da nahm er den winzigen Knaben in seine Arme und trug ihn nach Hause. Seine Frau schimpfte ihn aus und sprach: „Du bist wohl närrisch geworden, wir haben ja kaum genug zu essen für unsere Kinder.“ Als sie aber das Gold sah, da liess sie sich besänftigen und nahm das Kind wie ein eigenes auf. So blieb der Knabe im Hause des Holzfällers und wuchs heran. Er war wunderschön von Angesicht und Gestalt, aber grausam und böse von Herzen. Die Tiere flohen vor ihm, denn er quälte sie, wo er nur konnte. Als der Holzfäller ihm einmal voller Kummer fragte, warum er nur so böse sei, dann antwortete der Knabe: „Was geht das dich an?“

Der Holzfäller erzählte ihm hierauf, dass er ihn im Wald gefunden und grossgezogen habe. Der Knabe aber gab nicht viel auf diese Worte und verspottete ihn. Eines Tages wankte eine Bettlerin die Dorfstrasse entlang. Sie trug zerrissene Kleider und hatte wunde Füsse. Als der Sternenknabe sie sah, da reif er ihr zu: „Du alte hässliche Hexe“, und war mit Steinen nach ihr. Der Holzfäller, der das gesehen hatte, eilte der Frau zur Hilfe und sprach zu dem Knaben: „Was plagst du eine arme Frau, die um ein Almosen bittet? Hast du Bösewicht denn gar kein Herz?“ Die Bettlerin aber betrachtete den Knaben und sprach: „Was habe ich dir nur getan, dass du mit Steinen nach mir wirfst? Ich habe selbst einen Sohn, der so alt ist wie du. Aber er ist mir geraubt worden. Überall in der Welt habe ich nach ihm gesucht. Die Füsse habe ich mir wundgelaufen. Nirgends konnte ich ihn finden.“ „Was du einfältiges, hässliches Weib, willst meine Mutter sein?“, schrie der Knabe zornig. „Vielleicht bist du wirklich mein Sohn“, antwortete die Frau und begann zu weinen.

Da erzählte der Holzfäller, dass er vor zwölf Jahren in den Wald gegangen sei, um Holz zu sammeln, und dass ein kleiner Stern vom Himmel gefallen sei und er ein Kind in einem goldbestickten Tuch mit einer goldenen Kette um den Hals und einem Beutel voller Goldstücke unter den Windeln gefunden habe. „Zeigt mir, was ihr damals gefunden habt“, bat die Frau. Da öffnete der Holzfäller die Truhe, in der er all diese Dinge verwahrt hatte. Da waren das goldbestickte Tuch und die goldene Kette. Auch einige Goldstücke waren noch übriggeblieben. Die anderen hatte der Holzfäller verbraucht, um für seine Familie sorgen zu können. „Ich habe meine Sohn gefunden“, reif die Bettlerin, „bringt ihn zu mir, damit ich ihn umarmen und küssen kann.“

Der Holzfäller rief den Knaben herbei. Dieser aber lachte höhnisch, spottete und schrie: „Diese Bettlerin da, diese Hexe soll meine Mutter sein? Lieber küsse ich eine Schlange als die.“ Da weinte die Bettlerin und sprach: „Mein Sohn, du wirst mich noch brauchen, aber vielleicht wird es dann schon zu spät sein.“ Mit diesen Worten ging sie fort. „Endlich ist die Hexe fort“, rief der Knabe seinen Gefährten zu. Als diese ihn sahen, rannten sie schreiend vor ihm davon. Da ging der Sternenknabe ans Ufer eines Flusses, und als er sein Spiegelbild im Wasser sah, da hatte er den Kopf einer Kröte.

Er begann bitterlich zu weinen und sprach zu sich: „Oh, was habe ich nur getan. Wer weiss, wo meine Mutter jetzt ist. Ich will aufmachen und sie suchen.“ Auf dem Weg begegnete er einem Schmetterling. „Oh, Schmetterling, hast du vielleicht meine Mutter gesehen?“ „Und wenn ich sie gesehen hätte, ich würde es dir nicht sagen. Du hast mir ja die Flügel ausgerissen.“ Da kam ein Vogel geflogen. „Oh, Vogel, hast du vielleicht meine Mutter gesehen?“ „Und wenn ich sie gesehen hätte, würde ich es dir nicht sagen, denn du hast mir ja die Eier aus dem Nest geworfen.“

Alle Tiere, die er fragte, wollten ihm keine Antwort geben, denn er hatte sie alle grausam behandelt. So zog er traurig weiter. Er wanderte und wanderte und kam endlich zum Palast eines Königs. Er klopfte an die Pforte und fragte nach seiner Mutter. „Nein, deine Mutter ist nicht hier, du hässlicher Kötenkopf“, riefen die Wärter, „pack dich fort.“ In diesem Augenblick ging ein alter Mann mit langem weissen Bart und durchdringenden Augen am Palast vorüber. Er fragte den Knaben, was denn geschehen sei. Dieser sprach: „Oh ich habe meine Mutter schlecht behandelt. Ich tat ihr Böses. Nun suche ich überall nach ihr.“

„Komm mit mir. Wenn du mein Diener sein willst, so will ich dir helfen“, sprach der Alte. Der aber war ein Zauberer. Der Sternenknabe willigte ein. Da verband ihm der Zauberer die Augen und führte den Knaben in einen Keller voller Spinnweben. Dort nahm er ihm die Binde von den Augen und sprach: „Von nun an sollst du hier als mein Diener leben.“ Dann gab er ihm ein Stück Brot und einen Krug Wasser. „Iss, wenn dich hungert, trink, wenn Du Durst hast.“ Da jammerte und klagte der Knabe und sprach: „Wie soll ich meine Mutter jemals finden, wenn ich hier gefangen bin?“

Der Zauberer aber schwieg und verliess ihn. Am anderen Morgen kam er in das Verlies und sprach: „Auf, geh in den Wald. Du wirst dort drei Goldstücke finden, eines aus weissem, eines aus gelbem, das Dritte aus rotem Gold. Das weisse Goldstück aber bringe zu mir. Bringst du es mir nicht, bekommst du hundert Peitschenhiebe.“

Traurig machte sich der Sternenknabe auf den Weg. Er wanderte lange durch den grossen Wald. Als es schon dunkelte, hatte er das weisse Goldstück noch immer nicht gefunden. Da hörte er auf einmal eine Stimme, die rief: „zu Hilfe, zu Hilfe.“ Als er der Stimme nachging, fand er einen Hasen, der in eine Falle geraten war. Er hatte Mitleid und befreite ihn. Da sprach der Hase: „Wie kann ich dir dafür danken, dass du mich gerettet hast?“

„Oh, du wirst mir nicht helfen können. Mein Herr hat mir befohlen, das weisse Goldstück zu ihm zu bringen. Wenn ich es nicht finde, gibt er mir hundert Peitschenhiebe.“ „Wenn’s weiter nichts ist“, sprach der Hase, „komm mit mir.“ Der Sternenknabe folgte dem Hasen und dieser zeigte ihm das weisse Goldstück, das in einem hohlen Baum lag. Voller Freude und Dankbarkeit nahm er es und machte sich auf den Heimweg. Da begegnete ihm ein Aussätziger. Flehend bat er um ein Almosen. Der Sternenknabe bekam Mitleid mit dem armen Kranken und gab ihm das weisse Goldstück.

Vor dem Palast wartete der Zauberer schon auf ihn und fragte sogleich: „Hast du das weisse Goldstück gefunden?“ „Ja“, antwortete der Knabe, „aber ich habe es einem armen Aussätzigen gegeben.“ Da nahm der Zauberer eine Peitsche und gab ihm hundert Hiebe. Dann schloss er ihn wieder in dem Verlies ein, ohne ihm zu essen und zu trinken zu geben. Am nächsten Morgen kam der Zauberer wieder und befahl: „Auf, bring mir das gelbe Goldstück. Bringst du es mir aber nicht, so soll es dir schlimmer ergehen als beim ersten Mal, zweihundert Peitschenhiebe sollst du dann bekommen.“

Traurig machte sich der Knabe auf den Weg. Im Wald fand er wiederum den Hasen. Er war noch einmal in eine Falle geraten. Auch diesmal befreite der Knabe ihn, und der Hase sprach: „Zum zweiten Male hast du mich gerettet. Wie kann ich dir dafür danken?“ „Oh, du wirst mir nicht helfen können. Nun will mein Herr, dass ich ihm das gelbe Goldstück bringe. Wenn ich es nicht finde, gibt er mir zweihundert Peitschenhiebe.“ „wenn’s weiter nichts ist“, sprach der Hase, „komm mit mir.“ Der Sternenknabe folgte dem Hasen, und dieser zeigte ihm eine Höhle, in der das gelbe Goldstück lag. Voller Freude und Dankbarkeit nahm er es und machte sie auf den Heimweg.

Da begegnete ihm wieder der Aussätzige. Flehend bat dieser um ein Almosen. Der Sternenknabe bekam Mitleid mit dem armen Kranken und gab ihm das gelbe Goldstück. Vor dem Palast wartete der Zauberer schon auf den Knaben und fragte ihn sogleich: „Hast du das gelbe Goldstück gefunden?“ „Ja, aber ich habe es dem armen Aussätzigen gegeben.“ Da nahm der Zauberer die Peitsche und gab ihm zweihundert Hiebe. Dann schloss er ihn wieder in dem Verlies ein, ohne ihm zu essen und zu trinken zu geben. Am nächsten Morgen kam der Zauberer wieder und befahl: „Auf, heute bringst du mir das rote Goldstück, Bringst du es mir aber nicht, so peitsche ich dich zu Tode.“

Da ging der Knabe in den Wald, setzte sich auf einen Baumstumpf und weinte. Auf einmal begegnete ihm der Hase, den er schon zweimal befreit hatte, und fragte: „Warum weinst du denn so sehr?“ „Warum sollte ich nicht weinen? Es ist um mich geschehen. Mein Herr hat mir befohlen, dass ich ihm das rote Goldstück bringe. Wenn ich es nicht finde, peitscht er mich zu Tode.“ „Du hast mir zweimal das Leben gerettet“, sprach der Hase, „nun will ich das deine retten. Komm mit mir.“

Der Sternenknabe folgte dem Hasen und dieser zeigte ihm eine Baumwurzel, unter der das rote Goldstücklag. Voller Freude und Dankbarkeit nahm er es und machte sich auf den Heimweg. Da begegnete ihm wiederum der Aussätzige. Flehend bat er um ein Almosen. Da erfasste den Sternenknaben das Mitleid mit dem armen Kranken, und er gab ihm das rote Goldstück und bat ihn für seine Seele zu beten.

In diesem Augenblick fing die Erde an zu beben, und ein gewaltiges Donnern war in der Luft. Plötzlich stand da, wo noch eben Wald gewesen, ein prächtiger Palast. Diener verneigten sich vor dem Knaben, der nicht wusste, wie ihm geschah, und brachten ihn in einen grossen Saal. Dort sah er sein Gesicht in einem Spiegel. Der Krötenkopf war verschwunden, und er war schöner als je zuvor. Da traten der König und Königin zu ihm, umarmten und küssten ihn.

Der König sprach: „Ich bin dein Vater. Jener arme Aussätzige, dem du aus Mitleid die Goldstücke gegeben, bin ich gewesen.“ Da wandte sich die Königin an ihn und sprach: „Ich bin deine Mutter, die so lange nach dir gesucht und die du so böse behandelt hast. Jener Zauberer aber hat dir absichtlich aufgetragen, die Goldstücke zu suchen. Weil du mit dem Hasen und dem Aussätzigen Mitleid hattest, bist du erlöst. Du bist unser lieber Sohn.“ „Nun will ich aber auch den Holzfäller und seine Familie einladen“, sprach der Sternenknabe.

Da nahm der Zauberer seinen Stab und murmelte einige Worte, und schon waren der Holzfäller, dessen Frau und die zwölf Söhne und Töchter um den Thron versammelt. Der König und die Königin erzählten ihnen die ganze Geschichte, und sie feierten alle miteinander ein grosses Fest. Der Sternenknabe aber, der nun ein Prinz war, verliebte sich in eine Holzfällerstochter und heiratete sie später. Er ist nach dem Tod seines Vaters ein guter und gerechter König geworden.

Märchen aus Bulgarien

Aus: Zauberpferd und Nebelriese, Hg. Ulrike Blaschek-Krawczyk, Fischer TB vergriffen