Überkonfessioneller Bildungsabend zu «Gibt es christliche Politik?»

Überkonfessioneller Bildungsabend zu «Gibt es christliche Politik?»

7. September 2024 Aus Von Annelies Seelhofer-Brunner

Die Antwort vorneweg: «Christliche Politik» gibt es nicht, wohl aber Politik mit christlicher Wertehaltung.» Über diese Fragestellung diskutierte ein hochkarätig besetztes Quartett mit dem Gesprächsleiter Paul Gähwiler-Wick.

Die Antwort vorneweg: «Christliche Politik» gibt es nicht, wohl aber Politik mit christlicher Wertehaltung.» Über diese Fragestellung diskutierte ein hochkarätig besetztes Quartett mit dem Gesprächsleiter Paul Gähwiler-Wick.

Eingeladen hatten die fünf christlichen Kirchgemeinden der Region Uzwil:

Einstieg

Den Anfang der Veranstaltung machte der aktuelle Nationalratspräsident Eric Nussbaumer, seit 2007 SP-Nationalrat aus dem Kanton BL. In seinen Eingangsworten erklärte er, dass er schon als ganz junger Nationalrat einmal gefragt worden sei: «Was genau ist denn christliche Politik?» «Ich selbst», war damals seine Antwort. Denn der Werteraster eines Politikers werde auf jeden Fall wahrgenommen.

Man müsse nicht immer einer Meinung sein, meinte er. Aber ein wertschätzender Umgang und gutes Zuhören der Argumente des Gegenübers gehörten für ihn zu einer guten Gesprächskultur, auch in der Politik. Darum habe er auch nach einem öffentlichen Zwischenfall mit SVP-Nationalrat Thomas Aeschi im Bundeshaus anlässlich des Besuchs des ukrainischen Parlamentspräsidenten mit Aeschi das Gespräch gesucht, denn die menschliche Ebene sei ein wichtiger Faktor.

Für  Nussbaumer sind die rechtsstaatlichen Vorgaben bei jedem gesellschaftlichen Problem der Massstab. Im Augenblick werden grosse Diskussionen geführt rund um Asylfragen, Unterkunft für geflüchtete Menschen oder auch die Sicherung der Aussengrenzen des Schengenraums, zu dem auch die Schweiz gehört. Auch die Frage, wie man mit dem äusserst schwierigen Thema der Ausschaffungen umgeht, treibt die politischen Verantwortlichen in unserem Land um. Die Menschenwürde müsse in jedem Fall gewahrt bleiben.  Nussbaumer sprach auch die vielen internationalen Verpflichtungen an, die eingehalten werden müssen. Die Schweiz ist in vielen Teilen weltweit vernetzt. Kein Mensch in einem politischen Amt kann sich über das Gesetz stellen. Das wäre eine Straftat.

Nussbaumer hob auch die Stichworte «Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung» hervor, die in allen politischen Sachfragen wichtige Ratgeber sein müssten.

Podiumsdiskussion

Neben Nationalratspräsident Eric Nussbaumer – dieses Jahr immerhin höchster Schweizer – nahmen auch der seit 2019 amtierende St.Galler Ständerat Benedikt Würth – allgemein bekannt als Beni Würth – sowie Simone Curau-Aepli, Präsidentin des schweizerischen katholischen Frauenbundes und Christina Aus der Au, Präsidentin der evangelischen Kirche Thurgau, am Gespräch teil. Alle haben reiche Erfahrung im politischen und/oder wirtschaftlichen Bereich, Christina Aus der Au zudem aus philosophisch-umweltethischer Sicht. Das Gespräch fand in der Du-Form statt.

Kurze Vorstellung der einzelnen Mitwirkenden am Podiumsgespräch

Beide Männer sind Doppelbürger, Ständerat Beni Würth hat den Schweizer und den italienischen Pass. Von 2011-2018 wirkte er im St.Galler Regierungsrat mit, vorher stand er als Präsident der Gemeinde Jona vor. Er hat heute Mandate in verschiedenen Bereichen inne. Nationalrat Eric Nussbaumer kam im Elsass, unweit der Schweizer Grenze, zur Welt. Er besitzt einen CH- und einen französischen Pass. Schon immer setzte er sich für einen sozialen Ausgleich ein, für eine gute Zusammenarbeit mit der EU und für grüne Energie.

Simone Curau-Aepli ihrerseits spürte schon immer einen starken Gerechtigkeitssinn in sich. Ihr waren Frauenanliegen und Teilhabe dieses Teils der Gesellschaft schon früh ein Antrieb, hier Pflöcke zu setzen. Sie kennt auch die wirtschaftliche Seite der Gesellschaft, führte sie doch mit ihrem Mann gut 30 Jahre die Firma Curau AG, aus der sie sich per 31. August 2021 zurückzog.

Chistina Aus der Au schliesslich hat sich in verschiedenen Bereichen vertiefte Kenntnisse erworben. Ihre vielfältigen Einsätze für ein gutes Zusammenleben können hier nachgelesen werden.

Auch Gesprächsleiter Paul Wick-Gähwiler stellte sich vor. Er ist frischpensioniert, ist in der Partei DIE MITTE beheimatet, macht aber auch in der Operation Libero mit. Er war bis während fast 20 Jahren Präsident des Zweckverbandes der Seelsorge-Einheit Bichwil-Oberuzwil, Jonschwil und Niederuzwil-Henau und war ausserdem in vielen ehrenamtlichen Gremien tätig. Wer mehr über den Zweckverband erfahren möchte, findet hier weitere Informationen.

Präambel der Bundesverfassung

Zu Beginn des Podiumsgesprächs rief Gähwiler dazu auf, den Zettel, der auf jedem Stuhl lag, zur Hand zu nehmen. Darauf stand: «Präambel der Bundesverfassung – Im Namen Gottes dies Allmächtigen!» Hätte er gefragt, wie viele Personen im Saal diese Präambel schon einmal gelesen hätten, wären vermutlich nur wenige Hände in die Höhe gegangen. Dabei haben es diese Vorbemerkungen zur eigentlichen Bundesverfassung in sich. Gemeinsam lasen danach alle laut und andächtig die verschiedenen wichtigen Sätze vor. Sie waren Massstab für das folgende Gespräch in der Podiums-Runde.

Wohl der Schwächsten soll Massstab sein

Das Wohl der Schwächsten steht über allem. Für Simone Curau-Aepli ist «gleichwürdig» im Blick auf den Wertekanon sehr wichtig. Menschen mit Schweizerpass haben eine besondere Verantwortung für die Schwächeren, findet sie. Die Schweiz hat die UNO-Menschenrechtscharte unterschrieben. Christina Aus der Au erwiderte, dass für sie «würdig» reichen würde. Menschen haben «Würde», die heutigen und die künftigen. Sogar bei schweren Straffällen ist diese nicht verhandelbar. Die Frage muss sein: Entsprechen die Taten dem christlichen Verständnis? Jesus von Nazareth lebte vor, wie Handlungen würdig sind. Ein hoher Anspruch…

Wer sind «die Schwächsten»?

So fragte Gähwiler die Runde. «Kinder, Kranke, Menschen mit Behinderung, Frauen» waren die Antworten. Waren Frauen in der Schweiz bis 1971 noch aus dem politischen Leben ausgeschlossen gewesen, haben sie durch vermehrte Bildung und grössere Teilhabe unterdessen aufgeholt. Bildung erhöht die Chancen, stärkt die Wirtschaft und stabilisiert den Staat. Doch in Ländern wie Afghanistan oder auch in der katholischen Kirche oder anderen eher konservativen Religionskreisen haben Frauen noch immer keine Möglichkeit, ihre Stimme gebührend einzubringen. Und auch der Viertel der Wohnbevölkerung mit ausländischem Pass hat bis jetzt kaum Teilhabe. Würth meinte dazu, dass sich viele nicht einbürgern lassen wollten, auch wenn die Hürden nicht allzu hoch dazu seien. Dem widersprach allerdings Eric Nussbaumer. Die Schweiz habe sehr wohl hohe Hürden für diesen Akt. Nach vielen willkürlichen Entscheiden in Gemeinden gilt nun das Rechtstaatsprinzip für Einbürgerungen, mit der Möglichkeit, gegen ablehnende Entscheide zu rekurrieren.

Keine angstgeleitete Politik

Wer sich als Christ oder Christin versteht, sollte ein erlöster Mensch sein, hoffnungsvoll und ohne Angst. Doch für Beni Würth ist dieser Anspruch denn doch sehr, sehr hoch. Aber christliche Liebeswerke sind noch immer eine sehr gute Sache. Aber auch in anderen Religionen finden sich viele dieser Urwerte. Der interreligiöse Dialog ist darum sehr wichtig. Wünschenswert wäre ein Weltethos, ein für alle verbindlicher Kompass. Viele Probleme werden aber in der Umsetzung je nach Ermessen trotz solchem Kompass unterschiedlich angegangen.

Wie wird “persönlicher Kompass” gepflegt?

Eric Nussbaumer ist pietistisch aufgewachsen. Er fragt dennoch nicht ständig: «Was würde Jesus dazu sagen?» Aus der Mitarbeit und den Kontakten in seiner Kirchgemeinde nimmt er jedoch immer wieder neue Impulse mit. Doch die Frage sei ihm eigenglich zuwider. Er setze auf persönliche Kontakte, wolle aber dabei immer sich selbst bleiben.

Christina Aus der Au gab zu bedenken: «Beten, singen, hören – das stärkt. Beziehungskraft gibt Dynamik.» Und Simone Curau rief dazu auf, nicht einfach in der eigenen «Bubble» – Blase – zu verharren, sondern den Horizont zu erweitern. Und nicht zu vergessen sei: «Alles Private hat auch eine politische Dimension.» Beni Würth merkte an, dass heute doch nicht wenige Menschen den Kontakt zu einer religiösen Institution wie der Kirche verloren hätten, aber dennoch christlich handeln und denken könnten. Beni Würth beschrieb das Bestreben eines jeden Politikers. Die Fragen «Wie viel Leistung?», «Wie viel Unterstützung?» oder «Wie viel Solidarität soll gelebt werden?» seien da immer im Hinterkopf. Jeder Mensch im Land solle Teilhabe erleben dürfen.

Rechtsfreier Raum Internet

«Wie mit den Themen Globalisierung, KI (Künstliche Intelligenz), Migration umgehen?», fragte Paul Gähwiler nach. Nussbaumer gab zu bedenken, dass heute ungefähr die Hälfte aller Abstimmungen im Nationalrat einen internationalen Bezug hätten. Das sei besonders im schwierigen Thema der Migration der Fall. Viele Probleme könnten deshalb auch nur grenzüberschreitend angegangen werden. Und Würth warnte davor, alles zentralisieren zu wollen. Probleme vor Ort lösen, sofern das möglich sei, aber immer im Blick auf die ganze Gesellschaft. Die Frage der millionenfach verbreiteten «Fake-News» über die Sozialen Medien wurde dabei kaum gestreift, wäre ein abendfüllendes Thema für einen weiteren Bildungsabend. Die Frage des bis anhin rechtsfreien Raums der Sozialen Kanäle wird die Gesellschaft auch in Zukunft herausfordern.

Zusammenfassung

Wenn es auch eine «christliche Politik» nicht gibt, nicht geben kann, weil jeder Mensch «einzigartig, aber auch individuell entscheidend, ganz nach seinen Erfahrungen und seinem inneren Kompass» handelt, so gibt doch die Präambel der Bundesverfassung einen verlässlichen Rahmen. Gespräche über alle politischen Gräben hinweg verhindern grössere Konflikte und lassen auch gegenteilige Meinungen stehen. Dabei muss allerdings immer die Rechtsstaatlichkeit gewährt bleiben. Wertschätzung des Gegenübers, eine anständige Sprache und etwas Humor und Gelassenheit helfen, immer wieder Gräben überspringen zu können. Eine äusserst wichtige Rolle spielt auch eine umfassende Bildung.

Kleine Fragerunde

Am Schluss blieb noch Zeit für Reaktionen aus dem Publikum. Ein anwesender Mann meinte: «Die 10 Gebote der Bibel würden doch genügen.» Dem hielt Christina Aus der Au entgegen: «Schwierige Sache. Gerade im Hinblick auf die vielen Konflikte in der Welt: Wen darf man töten, wen nicht?» Auch das Bibelwort «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst» kam zur Sprache und wie wichtig Versöhnung nach einer Auseinandersetzung sei. Ein weiterer Mann merkte an: «Ein Mensch wird erst am Du zum Ich», wie das der Philosoph Martin Buber formuliert hat. Echte Beziehung zu einem Du – dem jeweils Nächsten – sowie Wertschätzung ist gerade auch in der politischen Arbeit von höchster Wichtigkeit. Achtung vor dem Gegenüber verhindert grössere Konflikte und erhöht das gegenseitige Vertrauen.

Mit einem feinen Apéro wurde der Abend abgeschlossen. Dabei wurde eifrig diskutiert. Das gehörte Gespräch hatte schliesslich genügend Anstösse zu einer Vertiefung gegeben.

Auf Uzwil24ist ebenfalls ein Beitrag zu diesem bedenkenswerten Anlass nachzulesen.