Wie ich meine 8 ½ -jährige Verdingbubenzeit beendete (1920-1929)

20. März 2019 Aus Von Annelies Seelhofer-Brunner

Es war August 1929, wir hatten beide Scheunen fast bis aufs Dach mit bestem Heu gefüllt. Die lange Halde stand noch mit bestem Ätzheu zum Schnitt bereit. Am 2. Samstag fiel der Barometer auf Schlechtwetter-Anzeige. Der Meister, W.G., war einziger Besitzer einer Mähmaschine für Pferdezeug in der Gemeinde Urnäsch.

Also fuhr er die ganze Halde am Samstagmorgen zu Boden. Ein warmer Südwind trocknete das Heu gut bis zum zweiten Abend. Aber das Wetter wurde zusehends unsicherer. Also jagte mich der Meister um halb Zwölf aus dem Nest. «Sofort aufstehen zum Heutragen!» Die Halde war fast 200 m lang, sodass ich immer weiter marschieren musste. Er macht nur hie und da eine Bürde für sich, dafür eine grosse, denn er war einer der Stärksten in der Gegend. Da der Föhn immer stärker blies und das Gewölk immer dichter wurde, hetzte er mich immer mehr.

Kurz nach Mitternacht setzte der Sturm ein, ein schwerer Regen prasselte herab. Wir hatten fast alles unter Dach, und ich freute mich schon auf ein wenig Schlaf. Doch es kam anders.

Es gab zur Stärkung etwas Gebäck und Tee. Nun hörte ich die Stubenuhr 2 Uhr schlagen. «So Bub, jetzt kommst mir noch das Velo putzen, ich muss am Morgen früh fort.»

Also fing ich mit der Arbeit an. Der obere Teil war im Stehen schnell gemacht. Als aber das erste Rad drankam, wurde ich schläfrig, sank zu Boden und schlief ein. Der Schlaf dauerte aber nicht lange, denn der Meister riss mich am Haar hoch, dann hieb er mich tüchtig durch. Die begleitenden Flüche lasse ich lieber aus. Als er wieder oben im «Nest» lag, bedachte ich meine Verdingbubenlage. Die ständigen Flüche und Schläge hatte ich schon längst satt. Als es oben wieder ruhig war, fasste ich den Entschluss: «Abhauen für immer!»

Das Gewitter hatte sich mittlerweile verzogen. Ich rannte nun dem Wald entgegen, hatte aber nur dürftige Hosen und ein leichtes Hemd an, aber die Absicht, mich zu entfernen, war mir das Wichtigste. Als Versteck suchte ich mir eine etwa einen Kilometer waldaufwärts stehende Wettertannen auf. Mit etwas Reisig machte ich zwischen zwei vorstehenden Wurzeln ein Nest und schlief sofort ein.

Das Bellen eines Rehbocks und liebliches Vogelgezwitscher weckten mich früh wieder auf. Ich überlegte nun, was ich jetzt anfangen sollte. Ich hatte nämlich vergessen, einen Strick mitzunehmen.

Ich wusste in der Nähe eine [1]Streuehütte, in welcher ich vorübergehend zu wohnen gedachte. Die war nicht verschlossen, und es roch nach dürrem Laub, und das konnte ich gut gebrauchen. Ich schlief den ganzen Tag und die folgende Nacht und fühlte mich auch sonst recht wohl. Ich suchte nun den nahen Waldrand nach Essbarem ab.  Ich entdeckte vollbehangene Heidelbeernester und nicht weit davon herrlich frische Eierpilze; auf der Weide wuchsen Sauerampfer, [2]«Habermarchle» und viele andere essbare Kräuter. In einem Staudenhag standen mehrere wilde Kirschbäume, die vertrocknete, aber herrlich süsse Wildkirschen trugen.

Ich muss noch erwähnen, dass ich immer, wenn ich die Hütte verliess, umherspähte, ob niemand in der Nähe sei, da ich annahm, dass ich gesucht würde. Es war in den drei ersten Wochen Wildnis fast immer trockenes Wetter. Doch ich musste überlegen, was ich machen wolle, wenn der Winter nahte. Auch sehnte ich mich bald nach einem Stück Brot und auch etwas Warmem.

Meine Mutter wohnte mit ihrem dritten Mann – die beiden ersten waren gestorben – ganz in der Nähe. Sie ging in die Fabrik und musste stets morgens um 5 Uhr anfangen. Ihr Mann machte den Haushalt und ging mit einem [3]«Kinderchrenzeli» Holz sammeln. Mein Versteck war nur etwa einen Kilometer von ihrer Behausung entfernt.

Eines Morgens sah ich ihn mit dem Chrenzeli in eine andere Gegend gehen. Da ich wusste, wo der Schlüssel versteckt war, schlich ich ins Haus, um ein Stück Brot zu ergattern.

Aber ich hatte mich verrechnet: Die Mutter war zuhause. In der Fabrik hatten sie nämlich einen Defekt am elektrischen Motor, der alle Maschinen im Saal antreiben sollte. Also mussten die Arbeiterinnen zuhause warten, bis der Defekt behoben war. Als ich mit einem etwa 1 ½ – Pfundstück Brot aus dem Küchenkasten verschwinden wollte, ging die Stubentüre auf und die Mutter sagte: «Du treibst dich in der Gegend herum, dabei kam vom Bauern der Bericht, du seist schwer krank, sodass dich niemand besuchen dürfe.» Mutter kochte mir eine Suppe, und Brot durfte ich genug essen.

Nun kam ihr Mann mit einem Chrenzeli voll Holz zurück. «Ja, wo treibt sich denn dieser verdammte Schlingel herum? Er kann gerade mitkommen, dahin, wo er hingehört!» Ich sauste aber aus dem Haus, vergass sogar das gemauste Brot und strebte wieder meiner Behausung zu. Da rief mir die Mutter zu: «Komm doch zurück! Ich weiss dir noch was Anderes!» Das gehässige [4]«Geschnorr» ihres Mannes störte mich nicht besonders. 

Mutter sagte nun, für die Bearbeitung eines grossen Postens Garn suche die Fabrik Arbeitskräfte.

Ich wurde dort angenommen, für 25 Rappen Stundenlohn. Der Verdienst reichte aber nicht für den Unterhalt aus, Kleider hatte ich ja kaum, und mit den [5]»Hudeln» aus dem Meisterhaus konnte man keinesfalls zur Arbeit.

Zur Fabrik gehörten mehrere Häuser und auch mehrere schöne landwirtschaftliche Betriebe. Der ledige Pächter suchte gerade einen Teilzeitgehilfen. So hatte ich bald zwei Meister in der Fabrik, 9 ½ Stunden pro Tag. Beim Bauern gings im Sommer jeden Tag um fünf Uhr an, im [6]Heuet eine Stunde früher. Ich arbeitete gerne für den Pächter, denn er hatte Humor und würdigte meine Arbeitsleistung. Ich habe mich von diesem Zeitpunkt an selbst durchgebracht und bin nie etwas schuldig geblieben.

Ernst Brunner


[1] Hütte für Gras aus einem Feuchtmoor

[2] Essbare Kreuzblütler, süsslich schmeckend –  Aussehen ähnlich einer Margritenblume

[3] Rückentragkorb

[4] Geschimpfe, Gekeife

[5] Lumpen, schlechte Kleider

[6] Heu-Ernte