Pech für den Hahn im Korb

Es war die einzige Schulreise, die ich mitmachen durfte, und beinahe wäre mir diese auch noch vermiest worden. Im vorigen Jahr war mir der Ausflug nach dem Kubel durch Tricks noch verunmöglicht worden. Der Lehrer schickte damals extra Nachbarskinder morgens früh zu meinem Meister, mit der schriftlichen Aufforderung, mich auch teilnehmen zu lassen, da er wisse, dass ich grosses Interesse an der neuen Turbinenanlage des Elektrizitätswerks Kubel hätte.

Es war Frühstückszeit, und der Meister sah die Kinder durch das Fenster zum Haus kommen, und er muss erraten haben, weshalb sie geschickt wurden. „Geh sofort die Schweineställe putzen!“, befahl er mir. Wie ich im Nachhinein erfuhr, sagte er den Boten: „Ja, ich liesse ihn gerne gehen, weiss aber nicht, wo er ist. Er wird sich halt versteckt haben…“

Aber nun ging es um die allerletzte Möglichkeit, doch noch eine Reise mit der Schule mitzumachen. Schon eine Woche vorher gab mir der Lehrer einen Brief für den Meister mit. In der Folge hörte ich das Meisterpaar wie folgt diskutieren: „Der Lehrer verlangt, dass alle Schüler mit Schuhen antraben. Ja, gewiss kauft man dem noch extra Schuhe!“ Die Meisterin meinte: „Er hat ja Holzböden.“ Beide sahen aber ein, dass diese zum Bergsteigen ungeeignet wären. Sie einigten sich darauf, dass man beim Nachbarn, der einen ganzen Schwarm Mädchen zu eigen hatte, Schuhe entlehnen könnte, und sie bekamen auch welche. Es kam in der Folge aber noch anders heraus.

Als Reiseort war die Ebenalp bestimmt, und man hatte dafür höchste Zeit, denn es war schon bald Ende September. Am Tag vor der Reise verletzte ich mich dummerweise beim Bretterabladen an einer Ferse, ein grosses Stück Haut war weg. Der Meister meinte: „Nun denn, jetzt ist halt die Schulreise dahin!“ Die Mädchenschuhe, die mir sonst gepasst hätten, vertrug ich wegen der Verletzung eben nicht. Nun heulte ich aber los, was ich aus Trotz nur selten tat. Da meinte die Meisterin: „Lass ihn halt gehen, der Lehrer wird ihn dann schon zurückschicken!“ Dem Fersen wurde noch ein notdürftiges Pflaster verpasst.

So durfte ich barfuss nach der Station Zürchersmühle wandern, d.h. ich sprang, als ob ich keine Verletzung hätte. Die freundliche Stationsfrau staunte, dass man einen Schüler in so einem Aufzug gehen lassen könne – kurze Hosen, ein dünnes [1]Lismerli und dazu barfuss, samt einer Verletzung. Diese gute Frau – sie war Samariterin – versorgte dann meinen Fuss fachmännisch. Sie verwendete eine kühle Salbe, polsterte, verband und zog eine starke Socke darüber. Als der Lehrer mit der Schar eintraf und mich missbilligend musterte, hatte ich Angst, dass er mich doch noch heimschicken würde. Aber die Frau konnte ihn überzeugen, dass ich das schon überstehen würde.

Es ging nun per Dampfzug ins Weissbad, für mich war dies die allererste Eisenbahnfahrt. Obwohl ich der einzige Barfüssler war, kam ich gut mit. Ich freute mich auf den Znüni auf halbem Weg, aber der Proviant war so dürftig, dass ich gut die ganze Tagesration auf einmal hätte bodigen können. Zum Zmittag ging ich etwas nebenaus, damit niemand in meinen Brotsack sehen konnte. Nach dem Mittagsschmaus tauschten die meisten Schüler Früchte und Süssigkeiten aus und hatten zudem Geld zum Einkaufen von Getränken. Ich ging wie immer leer aus, denn ich hatte eben nie etwas zum Verteilen und auch nie einen Rappen im Sack. Den Durst konnte ich mir auf den [2]Vesper sparen.

Doch nun endlich zur Sache: Unter uns war ein schmuckes Bürschchen, ein liebenswürdiger Kerl in jeder Hinsicht. Er wurde von einer älteren Schwester vergöttert, und da sie Schneiderin war, stattete sie ihn stets mit den schönsten Kleidern aus. Auch sonst war er ein Sonnenbub, kurz, alle Leute mochten ihn. Er konnte auch immer das Neueste vorzeigen. Er hatte als Erster ein neues Velo, ein Grammophon, teure Spielsachen und eine Auswahl Bücher. Natürlich war er auch „Hahn im Korb“ bei den Mädchen, die stets seine Nähe suchten. Er verhielt sich aber neutral, und ich darf sagen, dass er fast der Einzige, der mich wegen meiner Dürftigkeit nicht verachtete.

Nach der Mittagsverpflegung gab der Lehrer freie Bahn für Spiele, mir aber empfahl er, mich davon zu enthalten, damit mir nicht nochmals etwas passierte. Ich fand ein [3]gäbiges Plätzli mit angewärmten Steinen und konnte so den Spielenden zusehen. Bald gesellte sich ein älterer Senn zu mir, der mir gerne Auskunft gab über die Wasserversorgung für das Vieh. Wenn es genügend regnete, reichte das auf grossen Blechtafeln gesammelte Regenwasser für das sämtliche Vieh. Wenn es zu lange trocken war, musste aus einer Schlucht, in welcher ewiger Schnee lag, solcher auf die genannten Bleche geschaufelt werden zum Schmelzen.

Auf einmal hörte man viele Kinder aufschreien. Beim [4]Fangis war etwas Schreckliches passiert. Der vorher beschriebene Knabe war gestolpert und vorüber in ein Mistloch gestürzt. Das war eine Grube im Freien, wo der reine Kuhdung – ohne Stroh – von der Weide bis zum [5]Sömmerungsende zum Vergären platziert wurde. Die ganze Vorderseite des Betroffenen war von dem zähen Brei überzogen. Die Mädchen waren nun plötzlich [6]“schüch“ und verzogen sich langsam. Doch der Lehrer war zur Stelle und rief sie zusammen. „So, ihr Mädchen, jetzt könnt ihr zeigen, wie teuer euch der E. ist, nun könnt ihr ihn putzen!“

Es konnten einige Schindeln besorgt werden. Damit machte der Lehrer selbst die Grobarbeit, indem er das Gröbste abschabte. Die Wirtin brachte einen Bund [7]Putzlumpen und einen Kessel warmes Wasser. Drei der Mädchen griffen nun zu, unter Anleitung der Wirtin. „Ihr müsst die Lumpen eintauchen, auswinden und das Kleid nur abtupfen, damit die Brühe nicht noch mehr in den Stoff eindringt.“ Nach etwa Dreiviertelstunden war das Gröbste getan, aber der Geruch war natürlich nicht auszumachen. Schuhe und Strümpfe sowie das Hemd konnten gewaschen und über dem heissen Herd getrocknet werden. Aber ein Ersatz für das Masskleid konnte nicht aufgetrieben werden.

Es wurde nun bald Zeit für den Abstieg. Doch es war nicht mehr die gleiche Stimmung vorhanden wie beim Aufstieg. Im Kurhaus Weissbad war für uns schon aufgetischt, aber als der Lehrer das Missgeschick seines Musterschülers erzählte, kam der Chef, um den Buben zu beriechen. Nein, so einen Geruch könne er im Speisesaal nicht akzeptieren, da zur gleichen Zeit auch noch eine Gesellschaft angesagt sei. Also hinaus mit uns. Eine ältere Angestellte hatte für den Unglücksraben und für meine Dürftigkeit eine zugfreie Nische ausgesucht, wo wir beide bei dem duftenden Kaffee sowie Weggli, Gipfeli, Butterringli, Konfitüre und feinem Käse bald [8]erwarmten.

Wir haben die gegenseitige Sympathie bis heute bewahrt. Für mich war es einer der schönsten Tage meiner ganzen Jugendzeit. Eine Zeitlang waren die „Reinigungsdamen“ aus der Klasse auf den „Hahn im Korb“ noch sauer, doch bald schlug sein Charme wieder durch.

Ernst Brunner


[1] Lismerli: Pullover (im Appenzellischen auch Lismer genannt)

[2] Zeit um vier Uhr nachmittags herum

[3] ein passendes, angenehmes Plätzchen

[4] Fangspiel

[5] Sömmerung: Zeit, in welcher das Vieh im Sommer auf einer Alp weiden kann

[6] Scheu

[7] Putzlappen

[8] warm bekamen