Nana und der Verdingbub

24. Februar 2021 Aus Von Annelies Seelhofer-Brunner

1962 von Ernst Brunner für einen Schreibwettbewerb verfasst.

Erni war noch nicht ganz sechs Jahre alt, als sein Vater kurz nach Beendigung des mörderischen 1. Weltkriegs von 1914 – 1918 an der Spanischen Grippe verstarb. Der Bub wurde darauf an den Mooseggbauern verkostgeldet – man nannte das auch „verdingt“ – , wo er und seine beiden Geschwister teilweise bei den Hühnern sich verpflegen mussten, weil es ja keinesfalls etwas kosten durfte.

Die „Moosegg“ war der „[1]nördige“ Gegenpart zum gegenüberliegenden „Lerchenhain“, einem stattlichen Berghof, dessen Haus- und Scheunenfront geradezu ideal der Sonne zugekehrt war. Auch die Bewohner dieses Hofes waren in verschiedener Hinsicht denen der Moosegg überlegen, waren doch schon vier Generationen darauf als erfolgreiche Viehzüchter tätig gewesen, während auf der Moosegg die Ziegen als Grossvieh galten und sich auf deren Wiesen verschiedene Unkräuter und Schattenpflanzen breit machten.

Bald musste Erni, ein „Säckli“ statt eines [2]Tornisters auf dem „Buckel“, in die fast eine Stunde entfernte Schule gehen, um sich dort als ABC-Schützen einschreiben zu lassen. Der Weg führte am Lerchenhain vorbei. Es ging nicht lange, so hatte dessen Bauer Gefallen an dem munteren Bürschchen gefunden. Eines Tages fragte dieser den kleinen Erni, der bewundernd die schöne Hausfront betrachtet hatte, ob er Lust hätte, hier zu wohnen. „Ja,“ antwortete der Bub, „das wäre mein grösster Wunsch!“

Der Jungbauer war mit einer blühenden Tochter aus dem Vorarlbergischen verlobt. Beide hatten den Wunsch, bald zu heiraten, sodass die Hofübergabe aktuell wurde. Eines Tages begegneten die beiden Verliebten Erni auf seinem Schulweg. Oswald, der Jungbauer, hatte seine Braut soeben zu einem Besuch abgeholt. Sie mussten schon davon gesprochen haben, denn kaum waren sie bei Erni angelangt, nahm Trude, die Braut, Erni an der Hand, drückte und herzte ihn, was ihm ein ganz eigenes Gefühl gab, denn so viel Liebe hatte er bis jetzt noch nie erfahren. Nun sprach der Bauer: „Erni, wir haben gerade mit deiner Mutter gesprochen. Sie ist einverstanden, dass du sofort zu uns kommst, und zwar für immer.“ Die Braut fügte noch hinzu: „Bei uns wirst du bestimmt genug Milch bekommen.“

Während eines Jahres nun hatte der Bub ein Leben, wie er es nie für sich geträumt hätte, fast so, als hätte er ein richtiges Elternhaus. Doch von da an „böserte“ es ständig mit der Behandlung. Erni musste für sein Alter viel zu schwere Arbeit verrichten. Auch konnte er fast nicht mehr genügend schlafen, so dass er in der Schule oft Mühe hatte wachzubleiben. Er ging dennoch sehr gern zur Schule, denn er lernte leicht. In späteren Jahren war ihm die Schule dann sogar die einzige Freude!

Erni war nach des Meisters Ansicht zu schwer von Begriff, was jedoch nicht stimmte, hatte dieser doch kurz nach der Heirat auch schon mit seiner Frau die Geduld verloren, weil sich diese nicht unbedingt leicht den neuen Verhältnissen anpassen konnte. Bald klappte es im ganzen Haushalt nicht mehr. Der Jungbauer überwarf sich sogar mit seinem Vater total, obwohl sie sich vorher ausgezeichnet verstanden hatten.

Eines Tages erhielt Erni von der jungen Bäuerin den Auftrag, nach der Schule zum Bahnhof zu gehen, um „Nana“ – wie die Grossmutter genannt wurde – abzuholen. Der Bub stellte sich vor, das müsse mindestens eine Heilige sein. Er musste aber ziemlich lange warten, bis das Bähnli endlich die Ersehnte herbeibrachte. Kaum hatte er sie erblickt, wusste er: „Das wird mir eine Freundin!“

Nana war damals schon eine sehr zarte, fast durchsichtige und gebeugte Gestalt mit schütterem Haar. Doch die Augen, die liessen ihn erahnen, welches Meer von Güte im Innern verborgen war. Seit Nana anwesend war, nahmen sich alle Familienmitglieder sehr zusammen, um sie ja nicht aufzuregen, denn solche ertrug ihr schwaches Herz schlecht.

Am wenigstens konnte sich allerdings der Jungbauern beherrschen, und so kam eines Abends ein hitziger Wortwechsel in Gang. Der alte Bauer beschwerte sich darüber, dass der Junge ihn und Erni, den kleinen Zweitklässler, alle Arbeit mit den 30 Tieren allein machen lasse, während er selber an seinen verschiedenen Jagdwaffen hantiere! Oswald erwiderte giftig: „Ich habe nicht im Sinn, alte und fremde Leute umsonst zu füttern!“

Der Alte hiess ihn darauf schweigen. Oswald kam nun mit einem Satz auf ihn zu, um ihn zu packen! Der Alte stand in diesem Moment mit der vollen Milchtanse auf dem Rücken vor der geöffneten Kellerfalle, welche Erni kurz vorher geöffnet hatte, tat nach einem kräftigen Stoss des Jungbauern einen Schritt rückwärts und stürzte samt der vollen Milchtanse rücklings auf den steinernen Kellerboden hinunter. Allen waren starr vor Schreck, denn niemand glaubte, dass das ohne Genickbruch abgehe.

Doch, oh Wunder! Der alte Mann konnte sich sogleich wieder erheben, die hohle Tanse, die durch das Gewicht des fallenden Mannes total zusammengedrückt worden war, hatte den Sturz gebremst. Plötzlich stand Nana unter der Küchentüre, die vorher schon zur Ruhe gegangen war, den Rosenkranz in den Händen haltend, und sah mit durchdringender Miene von einem zum andern. Alle wurden still und der Vorfall ohne weiteren Kommentar als erledigt betrachtet. Erni allein aber wusste, dass das Gebet von Nana ein grösseres Unglück verhütet hatte. „Oswald“, sagte sie nun, „ab heute werde ich jeden Tag zwei Rosenkränze beten statt einen.“

Am andern Tag fragte der Altbauer während der Stallarbeit den jungen Erni: „Du hattest gewiss Angst bei dem Vorfall gestern Abend, gell?“ „Ja, ich fürchtete, Ihr würdet nicht mehr aufstehen nach diesem bösen Sturz“, war Ernis Antwort. „Ja, der Jähzorn lebt seit Generationen als verborgenes Flämmlein in unserem Geschlecht, er hat aber noch nie grossen Schaden gestiftet, denn er kam bisher nur selten zum Durchbruch.“

Erni bekam die Launen des Jungbauern von da an immer mehr zu spüren, was auch von der Jungbäuerin mit leiser Besorgnis beobachtet. Sie besprach sich deswegen auch mit Nana.

In Abwesenheit des Jungbauern flüsterte sie ihm eines Tages zu: „Erni, ich bitte dich, stelle dich nicht trotzig, wenn dich der Jungbauer ungerecht behandelt, denn Duldsamkeit ist eine der grossen Tugenden, und wer diese hat, der hat in allen Lebenslagen einen grossen Vorsprung.“ Kurz darauf verreiste Nana wieder, nachdem sie allen versprochen hatte, so und so viele Rosenkränze für jede einzelne Person im Hause zu beten.

Bald kam heraus, was den Charakter des Jungbauern so unvorteilhaft verändert hatte: Er besass mehrere Bücher über Autosport, die er heimlich verschlang. Vergeblich bemühte sich die Jungbäuerin, ihm klarzumachen, dass er seine Sorgen und Nöte doch mit seiner Familie besprechen solle. Doch damit kam sie gar nicht gut an, denn Oswald wusste nur zu gut, dass er in dieser Sache von seinem Vater keinerlei Zustimmung erhalten würde.

Zu jener Zeit waren Verhandlungen im Gange betreffs Anlegung einer Güterstrasse, damit eine Autozufahrt für die meisten Gehöfte in der Umgebung möglich werde. Oswald setzte sich tüchtig dafür ein. Anlässlich einer solchen Versammlung vertraute er einem Freunde an, er werde sicher der Erste in dieser Gegend sein, der ein Auto besitze. Der Alte bekam Wind von der Sache und stellte den Sohn deswegen zur Rede. Oswald hatte sich aber schon zu sehr in diese Idee verbissen, um sich noch davon abbringen zu lassen. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn wurde darauf jeden Tag noch gespannter, sodass man jederzeit einen neuen Zusammenstoss befürchten musste.

Die Meisterin schrieb heimlich an Nana, sie möge doch wieder zu Besuch kommen. Der alte Bauer hatte es mittlerweile verstanden, Oswalds Autofimmel so lächerlich zu machen, dass sich dessen bis jetzt sporadisch aufflammende Zorn nun in abgrundtiefen Hass verwandelte.

Einmal erwachte Ernie jäh mitten in der Nacht und hörte die Meisterin schreien. Angstvoll horchte er in die Nacht hinein und hörte zu seinem grossen Schrecken, wie der Bauer voll Hass schrie: „Jetzt ist’s genug, jetzt muss er mir dafür büssen!“ Ernie wusste sofort, dass damit der Altbauer gemeint war. Die Bäuerin versuchte ihren Mann zu beschwichtigen, da hörte der Bub ein Klatschen und wusste: „Jetzt hat der Meister seine Frau geschlagen!“ „Erni, komm und hilf!“, schrie sie nun voll Angst, und der Bub – gewohnt, immer zu gehorchen, erhob sich sofort und erschien im Türrahmen.

Der Meister war mit einem Satz aus dem Bett und bei ihm. Schnell wollte Erni die Türe wieder schliessen. Aber der Meister kam ihm zuvor, packte ihn am Nachthemd, ohne ihn jedoch zu schlagen. Er redete den Buben ganz unheimlich ruhig an und sprach: „Wenn du jemandem etwas sagst, was du hier gesehen hast, dann wirst du sogleich an einer Wand kleben. Jetzt machst du aber, dass du sofort wieder ins Bett kommst!“

Der Schlaf wollte sich jedoch fast nicht mehr einstellen, sodass Erni noch ganz viele massive Drohungen mit anhören musste. – Ich erschiesse ihn bei nächster Gelegenheit!“, war des Jungbauern letztes Wort, dann beruhigte sich auch dieser.

Tags darauf spürte Erni, dass heute Besuch komme. Wie erleichtere es ihn, als er gegen Abend die schwarze Gestalt von Nana auftauchen sah. Obwohl niemand ein Wort verlauten liess, wusste sie sogleich, dass etwas vorgefallen sein musste. Ihr Rosenkranz tat erneut sein Werk. Nana ertrug aber das Höhenklima fast nicht mehr, sodass sie schon nach zwei Tagen wieder abreisen musste, nachdem sie durch ihre tätige Liebe wieder ein ganz anderes Klima in die Familie gezaubert hatte. Erni flüsterte sie vorher noch schnell zu: „Ich selber werde kaum mehr hierher kommen können, aber mein Sohn Lorenz wird bald einmal hier erscheinen.“ Erni spürte nach ihrem Abschied längere Zeit eine grosse innere Leere.

Die Strasse war nun fertig – und es ging nicht lange, so fuhr Oswald von einem Markttag in einem „Buick“, den er von einem Occasionshändler erstanden hatte, nach Hause, nachdem er in aller Heimlichkeit Fahrstunden genommen und die Fahrprüfung bestanden hatte.

Oswald war nun zunächst etwas umgänglicher, nachdem er gesehen hatte, dass man ihn in der Familie doch etwas bewunderte. Bald aber zeigte sich die alte Launenhaftigkeit wieder. Auch fand er ständig neue Gründe, dem alten Bauern und dem Verdingbuben den grössten Teil der anfallenden Arbeiten zu überlassen. Bald hörte man auch Gerüchte, er treibe sich mit allerlei Frauen herum!

Ein schöner Frühling ging vorüber, der Heuet drängte bereits mit reifendem Gras, als Oswald das militärische Aufgebot bekam. Da war guter Rat teuer, musste doch auch der [3]Eidgenoss einrücken, welcher doch zuhause die Mähmaschine ziehen sollte. So bat die Meisterin in ihrer Verlegenheit ihren Bruder Lorenz um Hilfe, welcher sogleich anrückte und Hand anlegte. Erni merkte bald, dass er aus gleichem Schrot und Korn war wie seine Mutter „Nana“, von welcher Lorenz leider zu berichten wusste, dass sie wahrscheinlich kaum mehr lange zu leben haben werde.

Bei der Arbeit fiel Erni bald auf, dass Lorenz einen sehr kurzen Atem hatte. Mehrmals beobachtete er ihn und kam zum Schluss, dass auch dieser ein Leiden mit sich herumtrage. Als Lorenz entdeckte, dass Erni etwas bemerkt hatte, sprach er: „Gell Erni, du möchtest wissen, warum ich so lahme. Du musst nun brav arbeiten, dann will ich dir am Abend etwas erzählen. Und so beeilte sich Erni sich an jenem Tag ganz besonders mit all seinen Pflichten. Nach dem Tagwerk trafen sie sich beim hinteren [4]Gadenbänkli.

Lorenz forderte nun Erni auf, ihm auf die Brust zu klopfen. „Da ist ja etwas aus Metall“, stellte Erni sogleich fest, da er etwas Hartes erfühlt hatte und es zudem auch nach Metall klang.

„Ja, ich will dir jetzt aus eigener Erfahrung erzählen, wie ich lernte Geduld zu haben. Es war an der Ostfront, und zwar im Kaukasus, und da musste ich zusammen mit einem deutschen Kameraden einen Saumweg bewachen, der zwar militärisch nicht so wichtig war. Doch von einem einzigen Punkt aus konnte man die ganze Gegend übersehen und so die in diesem Sektor so gefürchtete Partisanentätigkeit des überall lauernden Feindes zu unterbinden.

In einer Felsnische hatten wir unser Maschinengewehr aufgebaut. Nun war ich momentan allein, denn mein Kamerad war aufgebrochen, um dem ca. 5 km entfernten Posten Rapport zu erstatten. Ich fing nun an, mit dem Feldstecher die Umgebung abzusuchen. Und was musste ich entdecken? In einem Fels-Couloir bewegte sich ständig etwas. Reihenweise tanzten Punkte auf und ab. ‚Nein, das sind keine Gemsen!‘, sagte ich mir. Es war ein strenger Befehl, auf alles, was sich in jener Gegend bewegte, scharf zu schiessen, und zwar ohne Warnung, da von dort her unmöglich „[5]Unsrige“ kommen konnten.

Unterdessen konnte ich ganz gut menschliche Gestalten unterscheiden, wie eine nach der anderen dem Kamin entstieg und mir nun entgegenkam. Es waren acht Männer, jeder mit einem unförmigen Paket beladen. Dessen Inhalt entpuppte sich als Wolle. Langsam konnte ich die Gesichter der einzelnen Gestalten gut erkennen. Es waren lauter junge, kräftige Burschen, anscheinend unbewaffnet, die sich mir nun ziemlich rasch näherten. Es hätte nur einer Feuergarbe bedurft, um allesamt im Abgrund verschwinden zu lassen.

Doch das brachte ich nicht übers Herz. Ich dachte mir, das seien doch gewiss Stammhalter, Söhne, Jungbauern wie ich selber. Statt den Abzug zu bedienen lieber die Augen zugedrückt! Ich duckte mich also hinter das Maschinengewehr, welches so gut getarnt war, dass es bei etwas Glück kaum bemerkt werden konnte.

Auch die fremden Männer mussten die Umgebung gut beobachtet und mich bemerkt haben, denn die zwei Vordersten hatten ihre Lasten etwa 100 m vor mir abgelegt. Ich entdeckte bei jedem nebst einer Pistole einen Dolch im Gürtel. In zwanzig Schritt Entfernung forderten sie mich unmissverständlich auf, die Hände zu heben, was ich auch tat, denn die Treue zu meinen Vorgesetzten war bei mir schon längst erloschen. Miteinander reden konnten weder wir noch die Männer, denn keiner kannte die Sprache der anderen. Dennoch verstand ich gut, dass sie wissen wollten, was ich hier zu tun hätte. Ich deutete mit dem Kinn auf das Maschinengewehr. Sofort verstanden sie, dass ich absichtlich nicht geschossen hatte, mussten aber aus begreiflichen Gründen auf ihre eigene Sicherheit bedacht sein. Einer der Männer hatte mittlerweile etwa 20 m unter dem Weg einen Felskessel entdeckt und nach kurzer Besprechung beschlossen die Acht, mich dort hinunter zu versenken. Berggewohnt, wie sie waren, liessen sie mich mittels Doppelseilschlaufe hinunter, damit ich ihren Abzugsweg nicht beobachten konnte.

Aber, oh weh! Das Seil war etwa 4 m zu kurz, sodass ich in der Luft baumelte. Da sie keine Zeit verlieren wollten, forderten sie mich durch Gesten auf, die Doppelschlaufe zu einer einfachen zu machen, um mich so  herunterzulassen. Ich machte jedoch einen Fehlgriff, sodass mir das Seil entschlüpfte und ich mit der Brust voran ungebremst auf den Rand des Felskessels stürzte, welcher dummerweise mit zünftig scharfen Zacken bewehrt war. Da blieb ich denn mit eingedrücktem Brustkorb liegen, während die Freiheitskämpfer unbemerkt verdufteten. Vorher hatten sie noch mein Maschinengewehr in den Abgrund geworfen.

Nach ungefähr zwei Stunden fand mich mein Kamerad bewusstlos vor. Im Lazarett wurde ich später sogar noch verhört, wobei ich angab, ich sei von oben durch Steinwürfe überrumpelt und kampfunfähig gemacht worden. An  dieser Lüge trug ich nicht schwer, in Anbetracht dessen, was sich verschiedene Soldaten und vor allem Vorgesetzte so alles erlaubten.

Meine Verwundung entzündete sich nachträglich noch ernsthaft, sodass ich [6]rückgeschoben werden musste. In der Folge wurden mir mehrere Rippen entfernt und stattdessen eben diese Metallplatten eingesetzt. Du siehst also, Erni, dass ich keineswegs ein Kriegsheld bin!“

Erni schwieg, dachte sich aber: „Doch, du und Nana, ihr seid für mich zwei richtige Helden.“ Vor seinem inneren Auge sah er plötzlich Nana mit dem Rosenkranz vor sich stehen. Weil Lorenz im Krieg auch noch andere Verwundungen erlitten hatte – von denen er allerdings kaum sprach – reiste er bald wieder ab, da er keine schwere Arbeit mehr verrichten konnte.

Nach etwa einem halben Jahr kamen kurz nacheinander zwei Todesanzeigen ins Haus. Zuerst war Nana verstorben, bald darauf hatte auch unser Kriegsheld Lorenz heimgehen dürfen. Von diesen beiden hatte Erni jedoch genug Kraft empfangen dürfen, sodass ihm auch die kommenden schlimmsten Jahre nur wenig  anhaben konnten!

Der Jungbauer trieb es in der Folge immer ärger. Oft liess er seine innere Wut an Erni aus, oder er schlug seine Frau, während seine vier Buben jedes Recht bei ihm hatten, obwohl diese nicht das geringste Interesse an der Landarbeit zeigten.

Begreiflicherweise suchte die Bäuerin ausser Haus Trost und fand diesen bei den Bibelforschern, mit dem „[7]Gwerb“ aber ging es von nun an rapide abwärts. Oswald hatte sich längst einen noch rassigeren Wagen angeschafft, konnte sich jedoch nicht lange daran erfreuen, denn er wurde bald in einen kostspieligen Unfall verwickelt. Um den Schaden zu decken  musste er das schönste Stück Boden verkaufen. Das wiederum konnte die Bäuerin nicht verwinden. Man fand sie erhängt im Wagenschopf. Da konnten auch die Bibelforscher nicht mehr helfen.

Der schöne Besitz wurde schon bald veräussert, der ehemals gutgestellte Lerchenhainbauer nahm eine Stelle als Berufs-Chauffeur an. Erni aber gelang es als Erwachsener, eine eigene Pacht zu übernehmen. Später heiratete er eine kluge junge Frau, welche ihm zu einem schönen Hof verhalf und ihm vier Töchter schenkte. So war Erni schliesslich – trotz vieler Widrigkeiten in seiner Jugendzeit – in einem eigenen, selbstbestimmten Leben angekommen.


[1] nördig: an einem Abhang auf der Nordseite eines Tals gelegen

[2] Tornister: Schulsack, wie man ihn in der Schweiz noch lange trug, für Buben meist mit Kuhfell bespannt

[3] Eidgenoss: ein arbeitstüchtiges Pferd, das im Militär eingesetzt wurde

[4] Gaden: eine kleine landwirtschaftliche Hütte für Heu und Stroh, manchmal auch für junge Rinder

[5] Unsrige: unsere Leute

[6]rückschieben: ins Lazarett hinter die Frontlinie bringen

[7]„Gwerb“ – Bauernbetrieb