An eine Beerdigung statt an eine Klausfeier
Die Beerdigung einer ganz besonderen Person verhinderte mir die Teilnahme an der diesjährigen Klausfeier im Altersheim. Diese Frau, Marie Meier, hat in meinem Leben eine ganz besondere Rolle gespielt. Die Beerdigung der ältesten Kantonsbürgerin fand am 7.12. in Urnäsch statt. Sie wäre am 09.12 104 Jahre alt geworden.
Im Jahre 1928 – ich hatte gerade eigenmächtig das 9-jährige Verdingbubenleben beendet – konnte ich als 14 ½-Jähriger in der Zwirnerei Nufer in der Saien, Zürchersmühle, als Hilfsarbeiter eintreten. Dabei lernte ich etwa zwei Dutzend Fachspulerinnen kennen, darunter eben diese Frau Meier. Sie galt als die flinkste und auch exakteste Arbeiterin, deshalb bekam sie immer die heikelste Ware zum Aufarbeiten. Ich selbst hatte am Anfang etwas Mühe, denn meine etwas älteren Kollegen wollten mich nicht akzeptieren und nannten mich Krüppel. Also hiess es: „Das hat der K. getan“ oder bei etwas Unangenehmen: „Das kann der K. machen“.
Als Frau Meier solches hörte, schritt sie sofort ein und drohte mit Verzeigung. Einzelne wollten das nicht annehmen, aber die Frau scheute sich nicht, diese an den Ohren zu nehmen! So kam es, dass die schnöde Bezeichnung bald aus dem Jargon verschwand. Ich muss aber sagen, dass diese nicht ganz unangemessen war, denn ich war in mehrerer Hinsicht krumm, dem Alter entsprechend viel zu klein, und hatte vorgewölbte Schultern, dazu lose herunterhängende Arme mit viel zu grossen Händen, glich also einem Gorilla.
Frau Meier riet mir auch, mir ja keinen Hass auf den Verdingmeister aufzuladen, denn das würde mein Fortkommen nur erschweren. Das war nicht leicht, denn neun Jahre lang dauernd misshandelt zu werden kann nicht so leicht vergessen werden. Aber es gelang, mit ihrer Hilfe! Ohne diese uneigennützige Hilfe hätte ich den Faden fürs Fortkommen kaum gefunden.
Da es in der Firma zu kriseln anfing, trat ich freiwillig aus, um als Knecht zu arbeiten und hatte fast keinen Kontakt mehr mit ihr, doch hie und da hatte ich doch das Bedürfnis, mich bei ihr auszusprechen. Sonst war Frau Meier mein Leben lang mein stillstehender Psychiater, denn jedes Mal, wenn ich Schwierigkeiten hatte, kam sie mir im Bilde vor, und ihre früheren Richtlinien kamen mir dadurch neu ins Bewusstsein.
Diese Richtlinien hat sie auch selbst gelebt. Frau Meier hat auch Schweres erlebt, und nach dem frühen Tod ihres Mannes hat sie im eigenen Lokal auf zwei Maschinen gestickt bis nahe zum neunzigsten Altersjahr. Und noch mit 93 Jahren hatte sie eine schwere Darmoperation. Ihren Nachkommen hat sie auch viel von ihrem Lebensmut mitgegeben.
Diese Frau hatte vermutlich etwa Jahrgang 1900 – Anmerkung A.S.