Auch Lindenbäume müssen leiden

24. März 2020 Aus Von Annelies Seelhofer-Brunner

Ich will vorausschicken, warum ich über Lindenbäume etwas schreiben will. Ich habe nämlich während Jahren Beobachtungen gemacht, dass dieser wertvollen Baumart nicht die gebührende Achtung zuteil wird.In früheren Jahren wurde oft aus dem Zustand der Hauslinde auf das Klima in Haus und Stall desbetreffenden Hofs geschlossen. Damals sah man noch nicht so viele malträtierte Bäume wie heutzutage.

Ein erstes Erlebnis mit einer Linde hatte ich vor 60 Jahren. Ich hatte damals einem Bauern ein viele Jucharten[1] umfassende, sehr steile Waldparzelle durchforstet. In Pauschalabmachung, das heisst ohne Entschädigung, aber das anfallende Staudenholz sollte mir zufallen. Ich hatte mich wie wild in die Arbeit gestürzt, denn ich hatte als Verdingbub intensiv zu arbeiten gelernt. Als der Bauer aber den Ertrag sah, in geordneten Haufen gelagerte Äste, krumme Latten und Staudenstrünke, da reute ihn die Abmachung und er nahm kurzerhand die Hälfte in Beschlag.

Beim Haus hatte der Bauer eine wuchtige Linde. Er wollte mich wegen des Verlustes trösten und meinte: «Kannst ja dafür einen Tag lang Lindenblüten pflücken.» Ich habe dann an einem Tag eine grosse Waschgelte gefüllt. «Ja, du Bürschchen, sooo viel habe ich dann doch nicht zu verschenken gedacht, kannst mir schon noch fünf Franken dafür bezahlen», hiess es da.

Diese beiden betrüblichen Erlebnisse haben mich aber nicht davon abgehalten, fortan ein besonderes Interesse für die Lindenbäume zu entwickeln.

Das Lindenblütenpflücken habe ich immer als herrliche Freizeitbeschäftigung betrachtet. Was gibt es denn Schöneres als frühmorgens bei Sonnenaufgang auf der Leiter zu stehen – oder in einer Astgabel zu hocken – und das ständig zunehmende Gesumme von unzähligen Bienen und Hummeln zu geniessen! Ich glaube auch, dass der Duft der Linde auf das Gemüt einen Einfluss hat. Aber leider hat sich das in den letzten Jahren krass geändert, der Honigduft lässt sich kaum mehr wahrnehmen.

Auch darf man fragen, wo die Bienen geblieben sind, ihr noch spärlich zu entdecken. Ich nehme an, die Luftverschmutzung wird zum Teil schuld sein, aber auch die schlimme Varroamilben-Seuche, eventuell stehen beide in einem Zusammenhang.

Seit dem Eintritt ins AHV-Alter habe ich mich sehr intensiv mit den Lindenblüten beschäftigt, und ich habe oft erfahren, dass Hausfrauen diese auch anstelle von Süssigkeiten als Geschenk akzeptieren.

Man kann aber auch in dieser «Brache» Unangenehmes erleben. So habe ich einmal an einem Abend eine Leiter angestellt und angebunden, um am Morgen frühzeitig mit Pflücken beginnen zu können. Als ich am Platz erschien, war dieser Sektor der Linde bereits total geplündert, vier Personen waren da am Werk. Aber es wurde wenig gepflückt, vielmehr wurden viele Äste abgerissen und im Kofferraum verstaut. Mich haben sie nur ausgelacht und mir geraten, halt höher zu steigen, ich hätte vermutlich mehr Übung darin. Wer ihnen die Erlaubnis zum Pflücken gegeben habe, wollte ich wissen. Antwort: «Wir haben am rechten Ort gefragt.» Sie zogen es dann aber doch vor, bald zu verschwinden. Besagter Baum wurde danach auch noch von anderen Leuten geplündert.  Fast sah es aus, als würde er eingehen.

Nach sorgfältigem Schnitt hat er sich jetzt aber wieder zu normaler Form zurückentwickelt. Ich kann nicht verstehen, dass Leute selbst pflücken wollen, aber keine Geduld beim Ablesen haben. Äste müssen herunter – meist die unteren Hauptäste – sodass die vorher schön geformten Bäume nur noch Ruinen gleichen. Wenn nämlich diese Hauptäste fehlen, kann auch kaum mehr eine Leiter sicher angestellt werden. Ich meine nicht, dass bei gutem Bewuchs nicht etwa ein Ast entfernt werden dürfe, jedoch mehr in äusseren Baumpartien, damit die natürliche Form des Baums gewahrt bleibt.

Und das Holz der Linde: zum Streicheln fein. Darum: Ehret den Lindenbaum!

Ernst Brunner


[1] Altes Flächenmass, ab 1836 genau 36 Aren, früher als Mass einer Tagesarbeit auf einem Feld oft unterschiedlich gross