Ein Abend nur mit Piano und Sand

Ein Abend nur mit Piano und Sand

22. September 2025 Aus Von Annelies Seelhofer-Brunner

Mit «Sandphonie» war der Anlass der Donnerstags-Gesellschaft Oberuzwil im Singsaal des Oberstufenzentrums Schützengarten überschrieben. Vermutlich konnten die wenigsten der rund 90 angemeldeten Personen sich vorstellen, was damit gemeint sei. Der Baselbieter Urs Rudin – ehemaliger Sekundarlehrer, Sandmaler, Zeichner und Musiker – führte an diesem Abend in die Welt der Musik, die für ihn unentbehrliches Lebenselixier ist. Aber nicht nur das! Er verführte das Publikum auch mit einer ganz besonderen Kunst zu andächtigem Staunen.

Vorstandsmitglied Marlies Gemperle stellte den international bekannten Künstler mit grosser Vorfreude vor und berichtete stolz, Urs Rudin sei sogar schon im spanischen Königshaus aufgetreten. Und nun also in Oberuzwil! Nach diesen kurzen Worten überliess sie bereits dem Mann des Abends das Feld.

Schnörkelloser Musikunterricht

Völlig unauffällig trat darauf Urs Rudin hinter einer Wand hervor – ohne Glitzer und Glamour – , setzte sich ohne ein Wort an den mitten im Raum stehenden Flügel und legte mit grosser Kraft und viel Pedal los. Man bekam beinahe Angst um die Stabilität des Instruments… Auf dem schwarzen Flügel stand fast etwas verschämt ein gleichfarbiges Tablet. Das war aber eher selten im Gebrauch. Man hörte hin, meinte, die Melodie zu kennen, wurde aber immer wieder auf eine falsche Fährte gelockt, bis das Geheimnis gelüftet wurde. Er hatte das Stück Music Was My First Love des britischen Musikers und Komponisten John Miles (1949 – 2021) in verschiedenen Varianten vorgetragen und damit auch gleich das Motto des Abends vorgezeichnet. Es ging einfach immer um «Music» oder eben Musik. Gleich danach wollte auch ein «Fraueli z’Märit» gehen, von Urs Rudin meisterhaft pianistisch erzählt.

Musik hilft bei der Vermarktung

Dann kam der Mann ins Plaudern, aber nicht etwa planlos, sondern ganz im Sinne der Musikerziehung. Er berichtete von Studien, die beweisen würden, welch grossen Einfluss Musik – beispielsweise von Komponisten wie etwa Mozart – auf das Einkaufsverhalten von Menschen habe.

Bei solchen Klängen kauften Menschen mehr. Das hätten Marketing-Spezialisten natürlich längst erkannt. Bei Wagner sei dieser Einfluss allerdings eher gestört, und interessanterweise würden Termiten schneller fressen, wenn Heavy Metal laufe. Die Macht der Musik hat offensichtlich Einfluss auf alle Bereiche des menschlichen Lebens. Hintergrundmusik ist allerdings nicht für alle Menschen eine reine Freude. Gerade Hochsensible leiden in Lokalen mit Berieselung, meiden diese sogar. Hier wird der Kaufanreiz also ins Gegenteil verkehrt.

Nicht umsonst mögen gewisse autoritäre Regime keine Musik. Zu Zeiten der Reisläuferei – Schweizer Söldner in fremden Kriegsdiensten – war es diesen Kämpfern streng verboten, Heimatlieder zu singen. Viele hatten nämlich im Ausland starkes Heimweh. Und hörten sie dann solche Musik, kam es oft vor, dass sie desertierten. Das wollte das Oberkommando natürlich verhindern.

Man kann eine Pause auch völlig ohne Worte ankündigen – wenn man so verblüffend mit Sand umgehen kann wie Urs Rudin.

Musiktheorie

Musik braucht drei Elemente, um als solche empfunden zu werden. Als erstes braucht es eine Melodie, eine Folge von Tönen, die möglichst einprägsam sind und sich im Gedächtnis festsetzen. Nicht umsonst mögen Fans von Popmusik an einem Konzert immer gerne viele bekannte Hits ihrer Lieblingsband. Das Vorhergesehene beruhigt, lädt zum Mitsingen – allerdings ist das oft eher ein Mitgrölen! – ein und verbindet damit die ganze Zuhörerschaft für die Dauer des Konzerts. Allerdings muss eine Melodie auch mit passenden Akkorden versehen sein, damit ein harmonischer Klang entsteht. Und ganz wichtig ist zudem der «Groove» – der Rhythmus eines Musikstücks. Zu jedem dieser Elemente spielte der Mann auf dem Flügel passende Beispiele.

Verschiedene Tonsysteme

Einer Musik hört man ihren kulturellen Hintergrund meist sofort an. So tönt asiatische Musik ganz anders als etwa ein richtiger Blues aus dem Mississippi-Delta. In unseren Breitengraden beruht der musikalische Aufbau auf dem Oktavensystem. Arthur Schönberg brach mit der üblichen Verwendung des Systems und führte die Zwölftontechnik ein. Andere Komponisten folgten ihm. Schönberg war überzeugt, dass seine neue Kompositionsweise die nächsten hundert Jahre prägen werde. Und er hatte Recht, viele heutige Kompositionen beruhen auf dieser Technik! In vielen Kulturen gilt die Pentatonik, die Fünftonmusik. Damit entstehe einfach immer ein Blues, meinte Rudin.

Der grösste Meister aller Zeiten ist nach Rudin eindeutig Bach, der auch seinen Namen zu Musik machen konnte. Kein ernsthafter Musiker kommt an diesem Mann vorbei. Und klar ist zudem, dass zu guter Musik auch Spannung und Entspannung gehören.

Auftaktintervalle

Das Auftaktintervall eines Stückes prägt die Stimmung des Werks. Anhand vieler Beispiele zeigte Rudin, dass Intervalle die Stimmung bestimmen. So prägt eine aufsteigende Quart eine majestätische, ja triumphale Wirkung. Die aufsteigende Sexte dagegen wird häufig angewendet, wenn eine sehnsüchtige Stimmung gewünscht wird, was Rudin am Beispiel der Arie «Dies Bildnis ist bezaubernd schön» aus der Zauberflöte von Mozart illustrierte. Für Stabilität sorgt dagegen die reine Quint. So hat jedes Intervall auch eine eigene Funktion. Unvergesslich ist die Titelmelodie des Western «Spiel mir das Lied vom Tod». Ennio Morricone schuf dazu die Filmmusik, und das nur mit drei Tönen – einfach unvergesslich! Dabei fragte der Künstler im Publikum nach dem Namen einer Frau und setzte ihre Buchstaben gleich in eine kleine Melodie um.

Dann gibt es natürlich auch noch die Tongeschlechte DUR und MOLL. Auch das verändert die Stimmung. Mozart hat laut Rudin nur eine einzige Sonate in Moll geschrieben, damals, als er als Erwachsener 1777 in Paris ankam, dort aber niemand auf ihn gewartet hatte. Und weil sein Vater ihn nicht begleiten konnte, tat dies seine Mutter. Leider starb diese plötzlich 1778, was den jungen Musiker tief verstörte. Er komponierte darauf seine Klaviersonate Nr. 9, die auch «die Düstere heisst», die einzige in Moll.

Musiker-Gossip

Rudin plauderte auch etwas aus dem Nähkästchen bekannter Musiker. Musikerinnen kamen leider gar keine vor. So war Franz Liszt (1811-1986) – ungarisch-deutscher Abstammung – zu seiner Zeit bereits eine Art Rockstar, vermutlich der beste Pianist aller Zeiten, wie Rudin vermutet. Zu Liszts Ruhm gehörte auch sein gutes Aussehen, welches ihn für Frauen unwiderstehlich machte – und ihn umgekehrt in ständige Amouren verstrickte. Auf einer seiner verschiedenen Tourneen kam er 1842 nach Berlin und fuhr dort grossspurig vierspännig vor. Eine begeisterte Menge begrüsste ihn, ein paar Fans schirrten schnellstens die Pferde aus und zogen die Kutsche eigenhändig und unter grossem Jubel durch die Stadt. Und weil die Frauenwelt ständig eine Locke aus seiner künstlerisch passenden Mähne wünschte, schaffte er sich einen Hund an, dessen Haare ihn selbst seit da vor zu grossem Haarverlust schützten.

Mozarts soll sein vermutlich berühmtestes Werk, seine Kleine Nachtmusik, in Windeseile zu Papier gebracht haben. Und der Komponist Erik Satie zeigte, dass auch mit nur 180 gesetzten Noten ein Werk namens Vexations erschaffen werden kann, das als längstes Klavierstück aller Zeiten gilt, nämlich zwischen 18 und 20 Stunden. Wer wohl so viel Sitzleder zum Zuhören hatte?

Sandgeschichten

Zwischenhinein gab es «Sandphonien». Urs Rudin braucht dazu nicht viele Materialien, einzig eine exakt darauf zusammengestellte musikalische Untermalung, dazu einen grossen Hellraumprojektor, auf welchem feinster rötlicher Sand liegt und eine Leinwand, auf welcher das Geschehen verfolgt werden kann. Gebannt schaute das Publikum auf diese Leinwand, um auch ja keine Fingerbewegung zu verpassen, die so zielsicher Geschichten voller Poesie allein mit diesem Sand entwickelte. Kein Mückslein war zu hören, einzig die unterlegte Musik. In einer dieser Szenen stand ein Mann vor einer knienden Frau mit einem Kind, alles bis in die kleinsten Details – Lippen, Augenwimpern, Ohren oder andere Merkmale – erkennbar, oft nur mit ein, zwei Körnlein zielsicher und wirkungsvoll am richtigen Ort angebracht. Der Mann hielt ein Gewehr in der Hand und bedrohte die Frau. Doch kleine Änderungen verwandelten das Bild so, dass der Mann der Frau die Hand reichte. Und oben flog eine weisse Friedenstaube vorbei.

Perspektivenwechsel

Kleinste Veränderungen mit dem Finger brachten auch in andere kleinen Malgeschichten immer neue Perspektiven. Zu jedem neuen Bild gehörte zudem eine Klaviertastatur, verbunden mit einem Ausspruch zur Magie der Musik. Ein Handstreich – und das ganze Bild war weg, begleitet von einem tosenden Applaus. Welche Kunst! Welche Emotionen! Das Publikum war verblüfft, berührt, begeistert.

Weil dieses nach der wunderbaren Musik- und Mallektion lautstark nach einer Zugabe bettelte, schenkte Rudin nochmals ein kleines Sandbild mit der Aufschrift «Bye, bye» – siehe Beitragsbild – , was auch Leute, die die englische Sprache nicht beherrschen, sofort kapierten. Der Abend wird in vielen Köpfen noch lange nachhallen. Und bestimmt ist man sich sicher, dass KI nie mit solcher Kreativität punkten kann. Das macht Hoffnung!

Die „Gotte für diesen Abend“, Marlies Gemperle Berger, dankte dem inspirierenden Künstler für den berührenden Abend und überreichte ihn ein Schächtelchen mit Oberuzwiler Pflastersteinen als süsse Stärkung auf den Heimweg ins Baselbiet.

Wer gerne mehr kleine Geschichten über berühmte Musikerinnen und Musiker erfahren möchte, ihre Marotten und Maröttchen, aber auch ihren Kampf um Anerkennung, findet beispielsweise im Buch Tasten, Töne und Tumulte ganz viel Wissenswertes, Anekdoten zum Schmunzeln und unbekannte Zusammenhänge.

Kammerorchester St.Gallen: Freitag, 7. November um 20:00 in der evangelischen Kirche Oberuzwil: Le Nozze di Figaro – Jugendliche und Mitglieder der Donnerstags-Gesellschaft haben freien Eintritt

Donnerstag, 27.November 2025 um 20:00 Uhr im Singsaal des Oberstufenzentrums Schützengarten zusammen mit der Musikschule Oberuzwil-Jonschwil: Ein Universum der Musik